Hildegard Wohlgemuth - Malerei
16.4.05-17.8.05
Malen als Befreiung
Die Bilder der Bettelkönigin

Die Bettelkönigin steht auf dem Hamburger Gänsemarkt, hat bunte, mit Rüschen verzierte Kleider übereinander gezogen: eine kugelrunde, freundliche Frau mit dem Charme eines Kindes. Mit dem Schild, das sie sich umgehängt hat, bittet sie die Passanten um Geld für Filzstifte. Sie, die sich „schizophren“ nennt, malt. Sie malt skurril und naiv anmutende Bilder des Grauens und der Hoffnung. Eine „merkwürdige“ Person. Fährt mit einem Roller durch Hamburg. Verkauft oder verschenkt ihre knallbunten Bilder. Phantastische Bilder, in denen sie immer wieder ihre Erlebnisse verarbeitete – ihr furchtbares und ihr wunderbares Leben. Hildegard Wohlgemuth wurde 1933 als Tochter eines Forstmeisters im Memelland (Ostpreußen) geboren. Ihre Familie verlor sie durch die Kriegsereignisse. In einem Kinderheim wurde sie zunächst versorgt. Gegen Kriegsende begaben sich die Kinder mit ihren Betreuerinnen auf die Flucht nach Westen. Unterwegs traf sie das Ereignis, das Hildegards Leben und ihre weitere Entwicklung bis zu ihrem Ende prägte und ihre Kindheit jäh beendete. In einem Leipziger Luftschutzkeller wurden alle 26 Kinder aus ihrem Heimatort von Bomben getroffen und getötet. Hildegard überlebte als einzige und stand fortan allein auf der Straße – im Alter von 11 Jahren! Die Gefährten ihrer Kindheit hat sie zeitlebens nicht vergessen können. Ihren Tod konnte sie nicht akzeptieren. So ließ sie diese Kinder in ihrem Kopf und auch konkret in ihrer Wirklichkeit weiterleben. Ärzte diagnostizierten bei ihr eine Schizophrenie, weil sie weiter die Stimmen ihrer toten Freunde hörte. Und so verbrachte sie nach dem 2. Weltkrieg deswegen viele Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern. Erst als sie schwanger wurde, gelang es ihr mit Hilfe einer engagierten Ärztin eine eigene Wohnung zu beziehen. Für die Tochter, die sie zur Welt brachte, wollte sie ein Zuhause haben. Malen war das Ausdrucksmittel, durch das sie ihre innere Welt mitteilen konnte und wodurch ihr Leben in mehrfacher Weise Sinn bekam. Sie begann damit ziemlich spät, erst im Alter von 52 Jahren. Eine Künstlerin, Elisabeth Ediger, sprach die stadtbekannte Bettlerin an und lud sie zu sich nach Hause ein. Einmal wöchentlich durfte sie seitdem bei ihr sein und in ihrem Atelier malen. Und schon bald entdeckte Hildegard, wie viel Freude sie selbst aber auch andere an ihren Bildern hatten. Phantasiewelten. Sie haben Hildegard Wohlgemuth am Leben gehalten. Das endgültige Sterben der Kinder in ihren Gedanken und Vorstellungen hätte sie nicht verkraftet. Die Stimmen begleiteten sie ihr ganzes Leben lang. Als Tiere, Pflanzen und Figuren sind sie auch in ihren Bildern präsent. In den letzten Jahren vor ihrem Tod – sie verstarb im Alter von 70 Jahren am 11.11.2003 in Hamburg – schaffte sie es, mit ihren Bildern und ihrer Geschichte noch ein beachtliches Maß an öffentlicher Anerkennung zu finden.

Der Norddeutsche Rundfunk produzierte einen erfolgreichen Fernsehfilm über ihr Leben und Werk. # Der Hamburger Psychiatriedozent Dr. Thomas Bock lud sie zu Kongressen ein, nahm sie zu Schulveranstaltungen mit und schrieb, zusammen mit der Journalistin Irene Stratenwerth, ein inzwischen preisgekröntes Kinderbuch über „die Bettelkönigin“. # Auch im Kunstkontext wurden ihre Bilder gezeigt, so z.B. in den Städtischen Kunstsammlungen Schloss Salder, Salzgitter. # Zahlreiche weitere Ausstellungen fanden in sozialen Einrichtungen statt, u.a. in der Obdachlosenhilfe Freiburg und im Brunnenhaus Bayreuth.

Immer öfter gelang es ihr im Alter auch etwas Geld für ihre Bilder zu bekommen. Aber wenn man hoffte, sie würde sich dafür selbst mal etwas gönnen, lag man falsch. Immer waren es andere, die aus ihrer Sicht gesehen Hilfe nötiger brauchten als sie selbst: die Obdachlosen und Bettler, mit denen sie lange zusammengelebt hatte, ihre Tochter und - vor allem – ihre vier Enkelkinder, von denen sie mit Stolz und Freude überall erzählte. Sie alle wurden von Hildegard, wann immer sie ein paar Mark oder Euro in den Händen hielt, liebevoll versorgt und beschenkt.